XV
Es war ungefähr ein Uhr, Joseph und ich waren
mit den Reisevorbereitungen beschäftigt. Da läutete es heftig an
meiner Tür.
,Soll ich öffnen?' fragte Joseph.
,Mach auf, antwortete ich und war gespannt, wer zu dieser Stunde zu
mir kommen könnte. Ich wagte nicht zu glauben, daß es Marguerite
sei. Joseph kam wieder und sagte: ,Es sind zwei Damen.'
,Wir sind es, Armand', rief eine Stimme. Ich erkannte Prudence und
eilte hinaus.
Prudence betrachtete stehend einige Kostbarkeiten in meinem
Salon.
Marguerite saß nachdenklich auf dem Kanapee. Ich eilte zu ihr,
kniete vor ihr nieder, ergriff ihre beiden Hände und sagte bewegt:
,Verzeihung.' Sie küßte mich auf die Stirn und entgegnete: ,Nun
habe ich Ihnen schon dreimal verziehen.'
,Ich wollte morgen abreisen.'
,Kann ich durch meinen Besuch Ihren Entschluß nicht ändern? Ich
komme nicht, um Sie rascher aus Paris zu vertreiben. Ich komme,
weil ich am Tage keine Zeit fand, Ihnen zu antworten, und ich
wollte Sie nicht in dem Glauben lassen, ich sei Ihnen böse.
Prudence war dagegen, daß ich Sie aufsuche. Sie meinte, wir könnten
vielleicht stören.' ,Sie mich stören, Marguerite? Aber wieso?'
,Nun, Sie konnten doch Damenbesuch haben', antwortete Prudence,
,und es würde nicht sehr angenehm für diese Dame gewesen sein, wenn
dann noch zwei hereingeschneit wären.'
Während Prudence diese Feststellung machte, beobachtete Marguerite
mich aufmerksam.
,Meine liebe Prudence', antwortete ich, ,Sie wissen nicht, was Sie
da sagen.'
,Wie hübsch Ihre Wohnung ist', entgegnete Prudence mir, ,darf ich
mir Ihr Schlafzimmer ansehen?' ,Ja, bitte.'
Prudence ging in mein Schlafzimmer, weniger, um es sich anzusehen,
als um Marguerite und mich allein zu lassen und ihre Dummheit
wieder gutzumachen.
,Warum haben Sie Prudence mitgebracht?' fragte ich. ,Weil sie mit
mir im Theater war und ich Begleitung haben wollte, wenn ich von
hier fortgehe.' ,Bin ich nicht da?'
,Doch. Aber einmal wollte ich Sie nicht bemühen, und dann hätten
Sie mich auch sicher an meiner Türe gefragt, ob Sie mit zu mir
hinaufkommen dürfen. Das könnte ich nicht erlauben und wollte
nicht, daß Sie mit dem berechtigten Vorwurf abreisen, ich hätte
Ihnen etwas verweigert.' ,Und warum können Sie es nicht erlauben?'
,Weil ich zu müde bin. Und weil Sie mir mit dem geringsten Verdacht
das größte Unrecht antun würden.' ,Ist das der einzige Grund?'
,Wenn es noch einen anderen gäbe, würde ich ihn sagen. Wir kennen
uns zu gut, um Geheimnisse voreinander zu haben.'
,Marguerite, ich will nicht viel Umwege suchen, um Ihnen zu sagen,
was ich gerne sagen möchte. Ich will Sie nur fragen: Lieben Sie
mich ein wenig?' ,Sehr.'
,Warum haben Sie mich dann betrogen?' ,Mein lieber Freund, wäre ich
die Frau Herzogin persönlich und hätte ich Zweihunderttausend
Francs Einkommen, wäre ich unter diesen Umständen Ihre Geliebte und
hätte Sie betrogen, dann hätten Sie ein Recht, mich nach dem Warum
zu fragen. Aber so bin ich nur Fräulein Gautier; ich habe
vierzig-tausend Francs Schulden, nicht einen Sous Vermögen und
verbrauche hunderttausend Francs im Jahr. Da ist Ihre Frage
überflüssig und meine Antwort unnötig.' .Das ist wahr', antwortete
ich und ließ meinen Kopf auf Marguerites Knie sinken. ,Aber ich
liebe Sie wie ein Verzweifelter.'
,Mein Freund, Sie müssen mich etwas weniger lieben und mich ein
wenig besser verstehen. Ihr Brief hat mir sehr weh getan. Wenn ich
frei wäre, hätte ich den Grafen vorgestern nicht empfangen. Oder
ich hätte Sie doch um Verzeihung gebeten, wie Sie es eben taten.
Und in Zukunft hätte ich außer Ihnen keinen Geliebten. Einen
Augenblick lang glaubte ich, ich dürfe dieses Glück sechs Monate
erleben. Sie wollten es nicht. Sie wollten unbedingt wissen, wie
ich das ermöglichen will. Mein Gott, das ist leicht zu erraten. Es
kostet mich viel größere Opfer, als Sie glauben. Ich hätte zu Ihnen
sagen können: Ich benötige zwanzigtausend Francs. Sie hätten alles
getan, um sie mir zu bringen, und mir das vielleicht eines Tages
vorgeworfen. Ich habe es vorgezogen, Ihnen nichts schulden zu
müssen. Sie haben dieses Zartgefühl nicht verstanden. Wir, wir
geben, wenn wir ein wenig Herz haben, den Worten und den Dingen
eine Bedeutung und eine Weite, die andere Frauen nicht kennen. Ich
sage Ihnen noch einmal, daß Marguerite Gautier sehr zartfühlend
vorging, um ein Mittel zu finden, ihre Schulden zu zahlen, ohne Sie
um das notwendige Geld bitten zu müssen. Sie sollten dies ohne ein
Wort des Vorwurfes gelten lassen. Wenn Sie mich erst seit heute
kennen würden, wären Sie sehr glücklich und würden mich nicht
fragen, was ich vorgestern tat. Wir sind manchmal gezwungen,
unserer Seele etwas auf Kosten unseres Körpers zu erkaufen. Und wir
leiden dann sehr viel mehr darunter, wenn diese Freude uns nachher
versagt wird.' Ich hörte Marguerite zu und betrachtete sie
bewundernd. Wenn ich daran dachte, daß dieses wundervolle Wesen,
dessen Füße ich noch gestern heiß zu küssen wünschte, mir ein wenig
Raum in ihren Gedanken einräumte, daß ich in ihrem Leben eine
kleine Rolle spielte, daß ich damit nicht zufrieden war und noch
mehr wollte, als sie mir gab, dann fragte ich mich, ob das
Verlangen des Mannes nicht auch Grenzen kennt, und wie es möglich
ist, daß er, sobald er wie ich Erfüllung sieht, noch nach anderen
Dingen greift. ,Es ist wahr', fuhr sie fort, ,wir Wesen des
Zufalls, wir haben phantastische Wünsche und unbegreifliche
Sehnsüchte. Wir geben uns bald für das eine, bald für das andere
hin. Es gibt Menschen, die sich für uns zugrunde richten, ohne
dafür belohnt zu werden. Anderen wieder schenken wir uns für einen
Blumengruß. Unser Herz ist launisch. Das ist seine einzige
Zerstreuung und die einzige Entschuldigung für unser Leben. Ich
habe mich dir viel schneller geschenkt als irgendeinem anderen
Mann. Das schwöre ich. Warum? Weil du, als ich Blut hustete, meine
Hand genommen hast, weil du geweint hast, weil du das einzige
menschliche Wesen bist, das Mitleid mit mir hatte. Ich hatte einmal
einen kleinen Hund. Wenn ich hustete, dann sah er mich immer mit
traurigen Augen an. Er war das einzige Wesen, das ich bisher
geliebt habe. Als er starb, habe ich mehr geweint als beim Tode
meiner Mutter. Sie hat mich auch zwölf Jahre meines Lebens nur
geschlagen.
Nun: dich habe ich gleich ebenso geliebt wie meinen kleinen Hund.
Wenn die Männer wüßten, was sie mit einer Träne erreichen können,
würden wir sie mehr lieben und wären ihnen weniger kostspielig.
Dein Brief hat dir selbst widersprochen. Er enthüllt mir, daß dir
das rechte Herzensverständnis fehlt. Er hat dich mehr in Unrecht
gesetzt als alles, was du mir sonst hättest antun können. Es war
Eifersucht, natürlich, aber ironische und ungezogene Eifersucht.
Ich war schon betrübt, als ich deinen Brief erhielt. Ich rechnete
damit, dich zum Mittagessen bei mir zu sehen. Ich hoffte, dein
Anblick würde einen Gedanken verscheuchen, der mich schon sehr
lange quält. Dann', fuhr Marguerite fort, ,warst du der einzige
Mensch, dem gegenüber ich mir keinen Zwang auferlegen mußte. Ich
fühlte sofort, daß ich mich so geben könnte, wie ich bin. Alle, die
mit Mädchen meiner Art Umgang haben, sind nur darauf bedacht, jedes
Wort zu ihrem Vorteil auszulegen. Wir wissen nicht, was das ist:
einen wahren Freund zu haben. Wir kennen nur egoistische Liebhaber,
die ihr Geld nicht für uns ausgeben, wie sie immer sagen, sondern
für ihre Eitelkeit. Für diese Menschen müssen wir heiter sein, wenn
sie es so wollen, müssen uns wohl fühlen, wenn sie ein Abendessen
arrangieren, müssen skeptisch sein, wenn sie es sind. Wir dürfen
kein Herz haben, weil wir sonst verhöhnt werden und keinen Erfolg
mehr haben. Wir gehören uns selbst nicht mehr. Wir sind keine Wesen
mehr, sondern nur noch Sachen. Wir sind die Ersten in ihrer
Eigenliebe und die Letzten in ihrer Achtung. Wir haben Freundinnen,
aber das sind Freundinnen wie Prudence. Frauen, die früher
ausgehalten wurden und die nun ihr Alter bedauern, weil es ihnen
nichts mehr erlaubt. Dann werden sie unsere Freundinnen oder besser
unsere Tischgenossinnen. Ihre Freundschaft reicht bis zur
Dienstbarkeit, niemals aber bis zur Uneigennützigkeit. Sie geben
nur Ratschläge, die auch ihnen etwas einbringen. Es ist ihnen
völlig gleich, ob wir zehn Geliebte haben oder zwanzig, wenn nur
Kleider oder Armbänder für sie abfallen, wenn sie nur in unserem
Wagen mitfahren können und dann und wann unsere Theaterlogen
benützen dürfen. Sie bekommen unsere Blumen und leihen sich unsere
Schals. Sie erweisen uns nie einen Gefallen, und sei er noch so
klein, ohne ihn sich doppelt bezahlen zu lassen. Du hast es selbst
miterlebt an dem Abend, als sie mir das Geld brachte, die
sechstausend Francs, die sie auf meine Bitte vom Herzog geholt
hatte. Sie hat sich gleich fünfhundert Francs geliehen. Die werde
ich nie wiedersehen, oder sie bringt mir dafür Hüte, die ich nie
aus dem Karton herausnehmen werde. Wir oder besser: ich kenne nur
eine Freude, die, weil ich oft traurig und fast immer leidend bin,
darin besteht, daß ich einen Mann finde, der erhaben über allem
steht und nicht Rechenschaft über mein Leben verlangt, der mehr der
Geliebte meiner Seele als der meines Körpers ist. Diesen Mann fand
ich im Herzog. Aber der Herzog ist alt, und das Alter bietet einem
nur wenig Trost. Ich glaubte, so leben zu können, wie er es gerne
wollte. Aber was kann ich dafür? Ich starb vor Langeweile. Und wenn
man nicht mehr leben will, kann man sich ebensogut in eine
Feuersbrunst werfen, wie sich mit Kohlengas vergiften.
Da bin ich dir begegnet, du warst jung, leidenschaftlich,
glücklich, und ich glaubte, du seiest der Mann, den ich mir so
glühend in meiner Verlassenheit wünschte. Ich liebte an dir nicht
das, was du warst, sondern das, was aus dir werden könnte. Du
wolltest diese Rolle nicht spielen, du wiesest sie zurück, als sei
sie deiner unwürdig. Du bist ein ganz gewöhnlicher Liebhaber. Mache
es wie die anderen, bezahle mich, und dann reden wir nicht mehr
darüber.'
Marguerite war durch dieses lange Geständnis ermüdet. Sie lehnte
sich zurück. Um einen leichten Husten zu unterdrücken, führte sie
das Taschentuch an den Mund und an die Augen. ,Verzeih mir, verzeih
mir', murmelte ich, ,ich wußte, was du wolltest, aber ich wollte es
aus deinem Munde hören, meine geliebte Marguerite. Vergessen wir
alles, und denken wir nur noch daran, daß wir einander gehören
wollen, daß wir jung sind und uns lieben. Marguerite, mach aus mir,
was du willst. Ich will dein Sklave, dein Hund sein. Aber zerreiße
um Gottes willen den Brief, den ich dir schrieb, und laß mich
morgen nicht abreisen. Ich müßte sterben.'
Marguerite holte den Brief aus ihrem Mieder, gab ihn mir und sagte
mit einem unsagbar sanften Lächeln: ,Nimm ihn, ich habe ihn dir
mitgebracht.'
Ich zerriß ihn und küßte unter Tränen die Hand, die ihn mir wieder
gab.
In diesem Augenblick kam Prudence zu uns zurück. .Wissen Sie,
Prudence, um was er mich bittet?' fragte Marguerite.
,Er bittet Sie um Verzeihung.' ,Genau das.'
,Und Sie verzeihen ihm?'
,Ich muß ja. Aber er erbittet noch etwas.' ,Was denn?'
,Er möchte mit uns zu Abend essen.' ,Und Sie geben Ihre
Zustimmung?' ,Wie denken Sie darüber?'
,Ich denke, ihr seid wie zwei Kinder, die beide nicht wissen, was
sie wollen. Aber ich denke auch daran, daß ich großen Hunger habe,
und je länger Sie Ihre Zustimmung hinauszögern, desto später werden
wir essen können.' ,Also gehen wir', sagte Marguerite. ,Wir haben
alle drei in meinem Wagen Platz. Hier', sagte sie zu mir gewandt,
,Nanine wird schon schlafen. Sie werden uns öffnen. Nehmen Sie den
Schlüssel und geben Sie acht, daß Sie ihn nicht wieder
verlieren.'
Ich küßte Marguerite innig. Da kam Joseph herein.
,Die Koffer sind gepackt', sagte er mit der Miene eines Mannes, der
sehr mit sich zufrieden ist. ,Alles ist eingepackt?' ,Ja.' ,Gut,
dann packe wieder aus, ich reise nicht.'«